3. Juli 2021 - Ev. Kirchengemeinde
Quelle: OZ Alsfeld 03.07.2021
Musikalische Seelsorgerin verlässt Orgelbank
Giesela Reul aus Storndorf hat 60 Jahre lang für Musik bei Gottesdiensten gesorgt / Unermüdlicher Einsatz bei Abschied gelobt / Nachfolger bereits gefunden
In einem Gottesdienst verabschiedet Pfarrerin Dorothée Tullius-Tomášek Storndorfs langjährige Organistin Giesela Reul. Foto: GeorgSTORNDORF (Ib). Kein Mensch hat in Storndorf mehr Zeit auf unserer Orgelbank verbracht als sie. Keiner hat mehr Lieder begleitet und kennt das Instrument so gut wie sie. Keiner hat wohl mehr Predigten oben auf der Empore verfolgt und dafür gesorgt, dass die Menschen in der Vollendung mit Musik zufrieden aus den Gottesdiensten gingen.
Mehrere Dekaden lang hat sie sonntags sowie zu weiteren kirchlichen Anlässen werktags verlässlich dafür gesorgt, dass die Orgelmusik in die Herzen der Menschen dringen konnte: „Danke Giesela Reul für 60 Jahre unermüdlichen Organisten-Dienst in der Storndorfer Kirche“, feierte die evangelische Kirchengemeinde des Pfarramts Ober-Breidenbach im Gruppenpfarramt Vogelsberg kürzlich einen klangerfüllten Gottesdienst mit „fliegendem Wechsel“. Neben der Verabschiedung ihrer über 80 Jahre alten treuen Musikerin hießen die Storndorfer ebenso Reuls Nachfolger Marc-Andre Klein aus Herbstein willkommen.
Wenn ein Singen von den oberen Kirchenbehörden noch nicht gestattet war, zogen Gemeindepfarrerin Dorothee Tullius-Tomášek, Dekanatskantor Simon Wahby, dessen neuer Musikkollege und die Gemeindeglieder alle erdenklichen Lobregister, um das auszudrücken, was sie ihrer Ruheständlerin in Wort, Bild und Ton hatten sagen wollen.
„Sie haben die Menschen in Freud und Trauer begleitet - durch sechs Jahrzehnte hindurch. Sie haben die Orgel gespielt für Generationen, sei es bei der Taufe, in der Kindergartenzeit, zur Einschulung, in der Konfirmandenzeit, möglicherweise bei der Hochzeit, Jubelhochzeit oder Jubelkonfirmation, wiederum bei der Taufe der Kinder und Enkel. Sie haben im Schwalmtal viele Menschen bei Beerdigungen mit den Klängen ihres Spieles getröstet. Sie waren für die Menschen als musikalische Seelsorgerin da“, packte Tullius-Tomášek Reuls wertvolles Wirken mit großer Anerkennung und Respekt in Worte.
Da auch die Storndorfer Kirchengemeinde genau wusste, was sie an ihrer treuen Seele an der Kirchenorgel hatte, scheute sie keine Mühen in der Entwicklung eines außerordentlichen Geschenks. Ihr kreativer Flow und das Endprodukt waren durchaus gelungen. In Kooperation mit der Orgelfirma Förster und Nikolaus aus Lich, den Erbauern der lokalen Kirchenorgel, hatten sie nunmehr die ehrenvolle Aufgabe, die passionierte Organistin mit einem einzigartigen Gebilde von sechs Orgelpfeifen zu beschenken als symbolische Würdigung ihrer langen Spielzeit. „Für jedes Jahrzehnt eine Pfeife“, so der Tenor der Verschenker.
„Eine Organistin mit 60-jähriger Dienstzeit in ihrer Gemeinde, ein schnell-gefundener Nachfolger und somit fliegender Wechsel von ‚Alt und Neu‘ in einem feierlichen Gottesdienst zu erleben - das ist schon etwas ganz Besonderes“, knüpfte ebenso Hauptkirchenmusiker Simon Wahby seine Laudatio an. Voller Begeisterung fokussierte er die Dienstjahre seiner Kollegin an der Königin der Instrumente. „60 Jahre lang musikalische Begleitung der Gottesdienste, das bedeutet auch Routine. Obgleich die Coronazeit uns auch gelehrt hat, wie sehr uns und den Gemeinden das Orgelspielen fehlen kann. Sie aber sehen sehr erfüllt aus“, schwärmte er und bedachte sie mit einem Buchgeschenk.
Herr Wahby bei seiner Ansprache.Eine kleine Zeitreise in die Vita der Organistin startete an Heiligabend 1961 mit der ersten Gottesdienstbegleitung in der vollen Storndorfer Kirche. Damals noch jung verheiratet, bekam Giesela Reul von ihrem Mann und ihrer Familie die notwendige Unterstützung. Der Orgeldienst hatte in der Familie immer Vorrang. Und wenn die Familie mal einen Ausflug plante, richtete sich das Familienleben an den Gottesdienstzeiten aus. Wenn sie aber wirklich einmal ausfiel, hatte sie mit dem Ober-Breidenbacher Organisten Klaus Decher einen zuverlässigen Vertreter.
Gerne half sie ihren Kollegen im Umland in Notsituationen aus der Patsche und übernahm deren Orgeldienste.
Mit den Pfarrerinnen und Pfarrern, Prädikantinnen und Prädikanten hatte sie immer gerne Gottesdienste gefeiert, die Mitgestaltung derer hatte Reul stets viel Freude bereitet. Die Kirchenorgel wurde zu einem wichtigen Element ihres Lebens, 20 verschiedene habe sie im Laufe der Zeit im Umland von Storndorf kennenlernen und spielen dürfen. Umso bewegter denke sie heute noch an die „Orgeltour“ mit dem früheren Pfarrehepaar Weber, bei der sie etwa 400 Reisekilometer zurücklegten, um die geeignete Orgelfirma für die Anschaffung eines neuen Instruments für die Storndorfer Kirche zu finden.
Als Organistin konnte sie so manche Überraschungen erleben. Einmal hatte ein Brautpaar vergessen, ihr Bescheid zu sagen über den Wunsch zur musikalischen Begleitung. Da sie jetzt aber nicht wusste, ob nun ein anderer Organist bestellt worden war, ging Reul vorsichtshalber in die Kirche - zum Glück für die Hochzeitsgesellschaft. Hätte sie das nicht getan, hätte das Paar ohne Orgelmusik in die Kirche einziehen müssen.
Eine Ausnahme
Eine Ausnahme im langjährigen Pflichtbewusstsein blieb auf der anderen Seite die Anekdote zu einer anderen Hochzeit in Storndorf, an der die Gartenarbeit im Hause Reul die Organistin zu unsanften Mitteln zwang. Die Musikerin war so mit ihrem Garten beschäftigt, dass sie die Zeit vergessen hatte. Die Glocken fingen an zu läuten und Giesela Reul fiel siedend heiß ihr Dienst an der Orgel ein. Rasend schnell zog sie sich um - hatte jedoch keine Zeit mehr zum Händewaschen - und flitzte am Brautzug, der damals noch durchs Dorf zog, vorbei, um das Malheur zu retten. Demzufolge wurde der Einzug des Brautpaars in die Kirche mit den beschmutzten Gartenfingern gespielt.
Jedes Ende hat bekanntlich einen Anfang inne: Wenn Giesela Reul fortan in ihrem Heimatort in der Kirche nicht mehr die erste Geige auf der Empore spielt, geht die musikalische Begleitung weiter. Wochentags als Metzgermeister im Dienst, zieht seit Juni der 46-jährige Marc-André Klein mit viel Feingefühl alle Register. Der gebürtige Herbsteiner lernte als Kind das Akkordeonspielen, danach Klavier. Vor 15 Jahren trat er in seinem Heimatort die Organistenstelle an, jetzt hat er den Radius seines Wirkens ausgedehnt bis nach Storndorf.
Pfr. Tullius-Tomášek übbereicht ein kleines Geschenk an den neuen Organisten Marc-André Klein.